Kant-Studien 1896-1996
von Gerhard Funke, Mainz

Am 15. April 1896 wurde das erste Heft der Zeitschrift Kant-Studien ausgegeben, ihr erster Band lag im Frühjahr 1897 vor. Das Erscheinen dieses philosophischen Fachorgans setzte ein Zeichen. In vielfacher Richtung war es zu beachten.

Noch zur Blütezeit des Deutschen Idealismus ist im ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts eine Wiederanknüpfung an die Kantische kritische Philosophie als unerläßlich angemahnt worden (Eduard Beneke 1832, Christian Hermann Weiße 1847). Es wurde die mögliche Rolle der Kantischen Philosophie für die kritische Bewältigung der philosophischen Aufgaben der Zeit bzw. der Zukunft gesehen und gekennzeichnet (Jakob Friedrich Fries 1837/1840; Immanuel Hermann Fichte 1847). Eine seit der Mitte des Jahrhunderts schnell anschwellende sogenannte ,,Kantbewegung" bezog diese Neuzuwendung zusätzlich in eine im Gang befindliche allgemeine Bildungsbewegung ein, und sie rechnete mit einem auch im Welt- und nicht allein im Schulsinne verstandenen Kant als focus imaginarius (Eduard Zeller 1858; Kuno Fischer 1858, 1860; Otto Liebmann 1865). Die am Ende des Zeitalters über die Jahrhundertwende hinaus entwickelten, unterschiedlich bald epochemachenden kantischen bzw. neukantischen Schulrichtungen sind vielgestaltig: Ihr Neokritizismus orientierte sich physiologisch-positivistisch-realistisch (Riehl, Volkelt), logizistisch-methodologisch (Cohen, Natorp, Vorländer), werttheoretisch-praktisch (Windelband, Rickert, Cohn), anthropologisch (K. E. von Baer, K. Lorenz), psychologistisch (Nelson, Cornelius), relativistisch (Simmel) oder kulturperspektivistisch (Graf Keyserling). Alle diese Spielarten konnten als wissenschaftliche ,,eine wirksame Kunst der Geistesführung" (A. Riehl) für sich nicht in Anspruch nehmen, so daß die Frage blieb, ob sich nicht über sie hinaus noch ein weiteres Wirkungsfeld eröffnete. Dies jedoch mußte diskutiert werden: philologisch getreu, hermeneutisch auf der Höhe, biographisch abgesichert und systematisch offen.

Kantstudien und Kantforschung sollten in den Kant-Studien ihr Diskussionsforum erhalten. In diesem Sinne wurden sie von Hans Vaihinger begründet; in diesem Sinne wurde auch die Kant-Gesellschaft geführt, die Vaihinger 1904 in Halle ins Leben rief. Er hat sie als Trägergeselischaft für die bestehenden Kant-Studien mit dem Aufruf ,,An die Freunde der Kantischen Philosophie" (Jg. 9) auf den Weg gebracht. Auch ihre Leitung oblag ihm bis 1910 allein, dann zusammen mit dem Kurator der Universität Halle sowie einem turnusmäßig hinzuzuwählenden Mitglied eben dieser Gesellschaft, bis diese Funktion dann (ab 1926) von Arthur Liebert als alleinigem Geschäftsführer entscheidend wahrgenommen wurde.

Die Sache Kants auch sachgerecht zu betreiben, ist durch die Ausgabe von Kants gesammelten Schriften möglich geworden. Wilhelm Dilthey hat sie 1893/4 durchgesetzt und zusammen mit Rudolf Reicke, Erich Adickes, Paul Menzer und vielen anderen in Angriff genommen. 1902 wurde der erste Band ausgegeben; 1996 ist sie noch nicht ganz fertiggestellt, doch liegt mit ihr ein fundamentales Rüstzeug für alle Weiterarbeit mit Kant vor.

Vaihingers Sache erfuhr von hier eine nachhaltige Unterstützung als Bedingung ihrer Möglichkeit.

Vaihinger, Straßburger Schüler des strengen Kant-Kritikers und Positivisten Ernst Laas, selbst aber seit 1881/1892 durch einen zweibändigen grundlegenden, wenngleich unvollendet gebliebenen Kommentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft hervorgetreten und ausgewiesen, war der kritischen philologischen Kant-Forschung verpflichtet, dabei gegenüber einer systematischen Ausgestaltung von Kants Lehre grundsätzlich aufgeschlossen.

Als die Kant-Studien zustande kamen, sind in den Jahrgängen zwischen 1896 und 1913 (Jg. 18) fast alle Beiträge auf ein Thema Kants als Gegenstand bezogen. Solche Beiträge verschwanden danach schnell (Jg. 20), und an ihre Stelle traten Untersuchungen weniger mit erkenntnistheoretisch-methodologischer als vielmehr mit wert-theoretisch-praktischer bzw. allgemeinerer bildungspolitischer Tendenz.

Vaihinger hatte die Kant-Studien-Redaktion zunächst allein übernommen. 1904 bis 1916 trat der Wertphilosoph Bruno Bauch hinzu; bei dessen Rücktritt folgte ihm (1917) der Diltheyschüler Max Frischeisen-Köhler. Danach übernahm nach dessen Tod (1923) der ,,marburgersche" Geltungstheoretiker Arthur Liebert zusammen mit dem Kantmitherausgeber Paul Menzer die Leitung, zumal sich Hans Vaihinger im Laufe der Jahre wegen Erblindung schrittweise aus allen seinen Funktionen (hier wie in der Kant-Gesellschaft) hatte zurückziehen müssen (1926).

In einer Selbstanzeige in den Kant-Studien (Jg. 24) hatte Liebert schon 1919 die Frage aufgeworfen: Wie ist kritische Philosophie überhaupt möglich? Diese Frage stellte sich konkret, als Liebert 1933 exiliert worden war und (über Belgrad bzw. Birmingham) erst 1946 wieder nach Halle-Berlin zurückkehren konnte, wo inzwischen Kant-Studien und Kant-Gesellschaft 1936 zum Erliegen gebracht worden waren.

Für die von 1934 bis 1935 zwischenzeitlich fungierende Leitung der Kant-Gesellschaft (d. h. für Paul Menzer, für Eduard Spranger und den ,,Ministerialen" Martin Loepelmann) hat Paul Menzer die Kant-Studien noch bis 1936 herausgegeben, ohne ,,aktuelle" Indoktrination.

Mit der neuen Serie 1942/4, für die ,,von oben" der gewesene Königsberger ,,kämpferische Philosoph" Hans Heyse schon früh, nämlich 1935, nach einem innerparteilich-nationalsozialistischen politischen Machtkampf ohnegleichen vorgreifend als Leiter vorgesehen worden war, enthüllte sich das dunkle Jahrzehnt in der Geschichte der Kant-Studien auf traurige (und groteske) Weise: George Leaman (Bowling Green) und Gerd Simon (Tübingen) haben die multikontroversen Vorgänge minutiös ermittelt und aufklärend-erhellend dargestellt (Jg. 85/1994); Thomas Conard (Halle) konnte auf Leaman/Simons ,,Kant-Studien im Dritten Reich" mit-fußend ein zusammenfassendes Gesamtbild (1996) entwerfen.

Paul Menzer vermochte seit der Einstellung der alten Kant-Studien (1937) damals keine Verantwortung mehr zu tragen; ebensowenig konnte die Kant-Gesellschaft, die als Trägergesellschaft (1938) inexistent geworden war, eine solche überhaupt noch übernehmen.

Die Reihe der Kantstudien-Ergänzungshefte (1-65) brach ab; nach Neugründung erst der ,,Studien", dann der ,,Gesellschaft" konnte sie fortgeführt und (bis 1996) auf nun 130 Veröffentlichungen gebracht werden.

In der Programmgestaltung von vornherein weder apologetisch noch polemisch (oder etwa ideologisch), demonstrierten die alten Kant-Studien wissenschaftliche Redlichkeit und menschliche Rücksicht. Vaihinger und Liebert prägten den bleibenden Stil der Kant-Studien ebenso wie den der Kant-Gesellschaft. Er blieb in Kraft, als Paul Menzer und Gottfried Martin (1953) die ,,Studien" wieder erneuerten, und als (nach Menzers Tod 1960) Gottfried Martin nun 1969 ohne ihn, aber von Ingeborg Heidemann wesentlich unterstützt, auch die ,,Gesellschaft" wieder ins Leben rief.

Vaihinger hat es zeitlebens vermieden, seine eigene Philosophie, d. h. die Philosophie des Als-Ob, die er zwischen 1876/8 erstmals konzipierte, aber erst 1911 veröffentlichte und für eine, nicht für die Möglichkeit einer Fortsetzung der Kantischen Position hielt, in den Kant-Studien prärogativ zur Geltung zu bringen. Er hat ihr in den Annalen der Philosophie (1919ff.) eine gesonderte Plattform geschaffen.

Ebenso hat es Gottfried Martin bei seiner Buchveröffentlichung belassen, als er in seinem Werk Kant (1951) die Ontologie und Wissenschaftstheorie in ihrem verschränkten ,,innigen Zusammenhang" wohl problemoffen-aporetisch interpretierte, aber doch dafür nicht noch verstärkend die Kant-Studien in Anspruch nahm.

Es ist hier wie dort die ,,überparteiliche Einstellung", die ,,keiner besonderen Richtung, auch nicht der eigenen", einen ,,einseitigen Vorzug" geben mochte und die ein strikt ,,sachgerechtes Philosophieren" erst ermöglichen sollte (Jg. 39, 1934-Jg. 78, 1987).

Die Kant-Studien haben wie die Trägergesellschaft selbst unter anderem eben auch gerade deshalb zeit ihres Bestehens einen internationalen Charakter gehabt. Emile Boutroux (Paris), Carlo Cantoni (Mailand), Edward Caird (Glasgow), James Edwin Creighton (Cornell), Norman Kemp Smith (Oxford) vor hundert Jahren oder Lewis Wliite Beck (Rochester), Raymund Klibansky (Montreal), Vittorio Mathieu (Turin), Paul Ricœur (Paris), John R. Silber (Boston), Ilerman J. de Vleeschauwer (Pretoria), William H. Walsh (Edinburgh) oder William H. Werkmeister (Los Angeles/Tallahassee) in der jüngeren Vergangenheit und jetzt belegen bzw. bezeugen es im Mitarbeiterstab oder als Mitherausgeber.

Die Trägergesellschaft, bis 1933 mit etwa 5000 Mitgliedern die wohl größte philosophische Gesellschaft im Weltmaßstab, besaß in den Kant-Studien (welche von den Mitgliedern kostenlos bezogen werden konnten) auch eines der einflußreichsten weitwirkenden Publikationsorgane. Nach dem Einbruch von 1933 und dem totalen Ruin im vorerwähnten ,,dunklen Jahrzehnt ihrer Geschichte" erwiesen sich Neubelebung und Neugestaltung nach dem zweiten Weltkrieg als von Grund auf schwierig. Sie zogen sich jahrzehntelang während des ,,Kalten Krieges" hin.

Das Wiedererscheinen der Kant-Studien konnte am ehesten, und zwar von der BRD aus, besorgt werden. Von hier aus wurde es auch gesichert. Durch die Initiative von Gottfried Martin (Mainz) sowie mit der Patronage (des in Halle verbliebenen) Paul Menzer kam es 1954 zustande. Menzer († 1960) und Martin übernahmen die Herausgeberschaft; und Martin (inzwischen in Bonn) übergab diese 1969 an den Unterzeichnenden, der sie dann (von Mainz aus) bis 1984 zusammen mit Joachim Kopper (Mainz) und danach gemeinsam mit Rudolf Malter († 1994) besorgte.

Ab 1996 kann er die Herausgeberschaft mit Thomas M. Seebohm (Bonn/Mainz) und Manfred Baum (Wuppertal) teilen. Unterstützt wurden und werden die Herausgeber (nach Manfred Kleinschnieders Ausscheiden 1993/1995) von Bernd Dörflinger, dem Redaktor und de facto-Leiter der seit 1990 am Mainzer Philosophischen Seminar institutionalisierten Kant-Forschungsstelle.

Durch die alte Mainzer Arbeitsstelle der Kant-Studien (1969ff.) ist neben den fälligen Jahrgängen der Zeitschrift eine Reihe von jeweils mehrbändigen Kongreßakten vorgelegt worden - so die Akten 1974, 1981, 1990 (Funke), 1985 (Seebobm); für den geplanten Kongreß Berlin 2000 ist nichts präjudiziert. Die traditionellen Hauptversammlungen der alten Kant-Gesellschaft sind seit 1960 von Gottfried Martin durch die erwähnten Kongresse ersetzt worden; Martins Nachfolger haben an der Neuregelung festgehalten. So steht nun der Kongreß Berlin 2000 vor der TŸr.

Dadurch, daß die Kant-Studien neben den Aufsätzen, den Rezensionen und den Mitteilungen sowie den bibliographischen Nachrichten auch ,,Diskussionen" einräumen, hat sich im Verein mit der schnell zunehmenden Computerisierung die Knüpfung eines Netzes von persönlichen Verbindungen ergeben, die für die neue Forschungsarbeit charakteristisch ist. Die Kant-Studien, die sich als Zeitschrift zwar finanziell selbst tragen, aber den Verbreitungsstand von vor 1939 keineswegs schon wieder erreichen, erfahren von hier her einen Aufschwung und einen Ausgleich. Der reinste Gewinn liegt in einem möglichen Zugewinn an menschlicher Beziehung.

Lewis White Beck, langjähriger Statthalter Kants in den USA, hat auf dem Mainzer Kongreß 1981 die Frage aufgeworfen: Was haben wir von Kant gelernt?

Beck gibt ihr die Antwort, daß wir verstanden hätten, es sei ein immer wieder betonter Hauptzweck der Kantischen Philosophie gewesen, die Verteidigung des Menschen ,,gegen die Anmaßungen und Verführungen vielversprechender, aber falscher Philosophien" zu leisten. Kant hat schon in der Kritik der reinen Vernunft zwischen einem ,,Monopol der Schulen" und dem ,,Interesse der Vernunft" unterschieden (B XXXII). Und hier wie dort ist dem Menschen wohl tatsächlich Aufklärung vermittelt worden. Dazu haben auch Kantbewegung, Kantgesellschaft und Kant-Studien zu ihrem Teil beigetragen.

Der Weltbürger Beck spitzt das Problem nun jedoch zu auf die Frage: was soll der Weltbürger von Kant, dem Philosophen, lernen? Eben hier liege noch eine Aufgabe des Kantischen heutigen Philosophen. Der Humanist Kant ruft zu fortgesetzter Selbstbesinnung und wacher Selbstkritik auf, wenn er, sich im Denken orientierend, 1786 fordert: ,,Freunde des Menschengeschlechts und dessen, was ihm am heiligsten ist! Nehmt an, was Euch nach sorgfältiger und aufrichtiger Prüfung am glaubwüdigsten scheint, es mögen nun Facta, es mögen Vernunftgründe sein; nur streitet der Vernunft nicht das, was sie zum höchsten Gut auf Erden macht, nämlich das Vorrecht ab, der letzte Probierstein der Wahrheit zu sein" (Ak VIII, 146).

In diesem Sinne der Wahrheit zu dienen, ist jede Arbeit zu leisten, die Kantisch recht verstanden sein will. Ihr sollen die Kant-Studien Sprachrohr bleiben.

Bei der Vierhundertundfünfzigjahrfeier für Kants alte Königsberger Universität ,,Albertina" lautete in Kaliningrad 1994 das Thema der Eröffnungsrede Funke: Revolution der Denkungsart, politischer Umsturz, eschatologische Erneuerung? - Von der Aktualität Kants. Denn: in der Hilfe, die Kant bei der Lösung dieser Fragen leisten kann, erblickte und erblickt der Unterzeichnende die ,,Aktualität Kants"!