Kant-Studien und
Kant-Gesellschaft
von Fritz-Joachim von Rintelen, Mainz


   Im Jahre 1896 wurden von Hans Vaihinger unter Mitwirkung u. a. von Adickes, Dilthey, Erdmann, Kuno Fischer, Riehl und Windelband, dazu einigen ausländischen Gelehrten, die Kant-Studien begründet. Vaihinger gibt selbst in dem 1. Band (1897) Ziel und Zweck der Gründung an. Die Rückkehr zu Kant sei wohl ein Schlagwort in jenen Tagen geworden, aber sie sei doch ein berechtigtes Anliegen. Die Studien haben eine zweifache Aufgabe: die historische Seite Kants einmal gründlich zu erforschen und die systematische Kantinterpretation von falschen Auffassungen zu befreien. Vor allem ist der Gegensatz von psychologischer und transzendentaler Auffassung der Kantischen Methode zu klären und zu fragen, ob die Kantische Methode in ein metaphysisches System ausmünde oder nicht. Ganz gleich, wie wir dazu stehen: Kant ist mit Recht „der Schlüssel zur modernen Philosophie“. Es sollen die Kant-Studien ein „Turnierplatz“ für alle diese geistigen Kämpfe sein, was sie in der Tat auch geworden sind. Wir sind, meint Vaihinger, besonders dem Ausland gegenüber zu solchen Studien verpflichtet, da es so starken Anteil an der Philosophie Kants nimmt, weswegen je ein amerikanischer Kollege (Creighton), ein englischer (Caird), ein französischer (Boutroux) und ein italienischer (Cantoni) in den Herausgeberstab eingetreten sind. ,,Es soll aber in den Kant-Studien nicht eine apologetische, noch eine polemische Tendenz zur Geltung kommen, sondern wissenschaftliche Redlichkeit.“

   Hiermit folgten die Kant-Studien dem Ruf von Otto Liebmann: ceterum censeo, es muß auf Kant zurückgegangen werden! Er wurde von Windelband in Band 15 (1910), welcher ganz der Philosophie Liebmanns gewidmet wurde, als der „treueste Anhänger aller Kantianer“ bezeichnet. In seinem Buch Kant und die Epigonen (1865) wendet er sich, wie Windelband wiederholt, gegen die „metaphysischen Nachfolger“ Kants sowie gegen die „naturwissenschaftliche Denkart“, welche den naiven Materialismus zum metaphysischen Dogma erhoben habe. Es geht Liebmann um den „Geist der Transzendentalphilosophie“, wenngleich er selbst in Zur Analyse der Wirklichkeit (S. 232, 1876) sagt, daß sein Werk „nicht innerhalb, sondern außerhalb der Kantischen Autoritätsphilosophie seine Stellung“ hat. Philosophie ist ihm Wissenschaft von den „Grenzen der Vernunft“ (S. 6). „Wozu wollen wir also weiterschweifen, da das Gute so nahe liegt“ (Kant, S. 208). Aber das führt uns nicht, wie Windelband einen Liebmann verteidigt, zum Psychologismus und Relativismus, sondern Liebmann gibt einen überempirischen Faktor an, der anzeigt, was wir Existenz, Wirklichkeit im Sein im Sinne des transzendentalen Idealismus nennen. Es bleibe allerdings nach ihm fraglich, ob die „Grenzen des menschlichen Erkenntnisvermögens genau an dem Orte liegen, wo Kant sie gezogen hat“.

   So bekennt Liebmann, daß wir den Unterschied von mechanischen und organisch-teleologischen Zusammenhängen sehen und ihn auch dahin philosophisch beantworten müssen, daß der Zweck, freilich nicht als konstitutive Kategorie, aber als „vernunftnotwendige Betrachtungsweise‘ angesehen wird. Liebmann besitzt nach Windelband aber doch ein metaphysisches Bedürfnis und ist auch „in die Metaphysik verliebt“. Darum spricht er von einer „kritischen Metaphysik“, welche „eine strenge Erörterung menschlicher Einsichten, menschlicher Hypothesen über das Wesen der Dinge“ darstellt. Mit ihr üben wir das „Hausrecht unserer Intelligenz“ über das aus, was Inhalt unseres Bewußtseins werden kann, müssen aber doch an den Grenzen menschlicher Erkenntnis stehen bleiben. Damit will Liebmann eine Stellungnahme zwischen der „Skylla des psychogenetischen Empirismus und der Charybdis der neuidealistischen Metaphysik‘ einnehmen. In Band 16 (1911) wird dann später von Ewald in interessanter Weise auf Liebmanns Beziehungen zum Neovitalismus von Driesch hingewiesen. Als Liebmann im Jahre 1912 starb, wurde ihm von Eucken und Bauch (Band 17, 1912) ein herzlicher Nachruf gewidmet. Seine Leistung gehöre zu „jenen integrierenden Faktoren“, ohne die eine Kant-Gesellschaft nicht hätte ins Dasein gerufen werden können. Er war gegenüber dem Wort des Meisters nicht treu, aber gegenüber dem „Geist des transzendentalen Idealismus“. Seine Philosophie war ein Präludium für die geistige Bewegung, welche die Kant-Studien und die Kant-Gesellschaft zu fördern sich beauftragt fühlten. Zugleich steckt in seiner Philosophie eine menschliche Haltung, welche die abweichenden Meinungen des andern entgegennimmt, sie abwägt, sich ihnen mit innerem Verständnis öffnet, aber den anderen darum nicht geringer achtet, eine persönlich philosophische Tugend, die nicht überall anzutreffen ist. Sagt doch heute Camus in La Peste, daß das Verständnis des anderen eine der höchsten Tugenden sei.

   Was von Liebmann gilt, ist auch von dem Begründer der Kant-Studien, Hans Vaihinger, zu sagen, sofern er sich wohl Kant im tiefsten verpflichtet fühlte, aber über ihn hinaus seine eigenen Wege ging. Mit Stolz läßt er in Band 4 (1900) berichten, welch günstige Aufnahme die Studien im In- und Ausland gefunden haben, und manche Urteile werden zitiert. Es wird auch die Stellungnahme von theologischer Seite hervorgehoben. Reischle sagt in der evangelisch-theologischen Literaturzeitung (1897): ,,Dafür, daß das Programm mit Umsicht und Sorgfalt durchgeführt wird, bürgt die Person des Herausgebers; dafür, daß Einseitigkeit vermieden bleibt, die Mannigfaltigkeit der Standpunkte“, und in der Revue Thomiste (1898) finden wir die Worte von père A. Gardeil: «cette revue sera très utile à quiconque veut se tenir au courant du mouvement philosophique Kantien». Aber die Studien bedurften noch eines weiteren Kreises, der sie zu tragen vermochte und eine lebendige Aussprache über das gemeinsame Ziel ermöglichte. So wurde 1904, anläßlich des 100. Todestages von Kant, die Kant-Gesellschaft gegründet, die dann nach einigen Jahren die Kant-Studien ganz übernommen hat. Nunmehr stehen wir einer umfassenden philosophisch-wissenschaftlichen Tätigkeit gegenüber. Sie gliedert sich in folgende Aufgabenbereiche: Abhaltung der Generalversammlung der Kant- Gesellschaft, Entfaltung des philosophischen Lebens in den Ortsgruppen, Ausschreibung und Prüfung von Preisaufgaben, Herausgabe der Kant‘ Studien und ihrer Ergänzungshefte sowie Teilnahme an der Kant-Ausgabe der Berliner Akademie.

   Die Jahresberichte in den Studien beschränken sich im wesentlichen auf finanziell-technische Fragen. Von größerer Wichtigkeit sind die Mitteilungen über das Leben der Kant-Gesellschaft der ersten 12 Jahre (Band 15, 1910, Band 18, 1913, Band 21, 1917, sind später). Der Vorstand war der jeweilige Kurator der Universität Halle, der Geschäftsführer Vaihinger, anfänglich allein, dann trat 1910 als stellvertretender Arthur Liebert hinzu. Eine Änderung erfolgte 1934, als Paul Menzer, Eduard Spranger und Ministerialrat Loepelmann die Leitung übernahmen. Herausgeber der Kant-Studien war zunächst Vaihinger allein, alsdann kam (1903) Bruno Bauch hinzu, der 1917, „allerdings nicht aus Gesundheitsgründen“, wie veröffentlicht wurde, ausschied. Frischeisen-Köhler und Liebert traten an seine Stelle. Seit 1925 (Band 30) haben Paul Menzer und Arthur Liebert die Herausgabe übernommen.

   Über die Generalversammlungen — es fanden bisher an die 20 fast alle in Halle statt, die letzte 1934 – finden wir in den Studien Berichte, die aber auf die geistige Aussprache kaum eingehen. 1924 wurde die Generalversammlung anläßlich des 200. Geburtstages von Kant in der Universität Königsberg abgehalten. Auf dieser glanzvollsten Tagung sprachen Gelehrte wie Adickes, Driesch, Liebert, Heinrich Scholz und Vaihinger ausschließlich über die Philosophie Immanuel Kants (Band 29, 1924). Von besonderem Interesse ist die Veröffentlichung über die Generalversammlung von 1927 in Halle (Band 32). Es wird nach dem Ausscheiden Vaihingers (1926) aus Gesundheitsgründen Arthur Liebert zum einzigen Geschäftsführer bestätigt. Vaihinger wurde zum Ehrenvorsitzenden ernannt, dessen „Würde ohne Bürde, gleichsam eine Würde als ob“, er annahm. Auf dieser Generalversammlung hatten dann noch über die Kantische Philosophie, und zwar Stammler über „Kants praktische Philosophie‘ und Heimsoeth über „Kants metaphysischen Weltbegriff“, vorgetragen Eine ähnlich ausführliche Orientierung erhalten wir über die Generalversammlung Halle 1929, auf der auffällt, daß durchweg Themen über ethische Forderungen und staatliches Leben gewählt wurden, worüber u. a. Carl Schmitt, Althaus, Hellpach, Freyer sprachen. Freyer bemühte sich u. a. darum, neben der „individuellen Sittlichkeit ein Wertgebiet des politisch Richtigen“ aufzuzeigen.

   Im Mai 1931 fand die größte allgemeine Mitgliederversammlung in Halle mit zirka 500 Teilnehmern statt, auf welcher als einziger Nicolai Hartmann seinen Vortrag „Zum Problem der Realitätsgegebenheit“ mit einer anschließenden zweitägigen Diskussion bot, an der ich als junger Privatdozent teilnehmen durfte. Hier vollzog er seine deutliche Wendung zu einem Realismus, vielleicht könnte man sagen, Schicksalsrealismus, sofern das Reale sich als ein Betroffensein von außen erweise, was keinen rationalen Weg der Begründung darstellen solle. Dieses erlaubte sich Kurt Huber, der infolge der Studentenrevolte von 1944 als ihr Leiter hingerichtet wurde, als einen Ohrfeigenrealismus anzusprechen, was Nicolai Hartmann mit Lächeln entgegennahm. Vergleichen wir auch seinen Artikel Diesseits von Idealismus und Realismus in Band 29 (1924). Schließlich sei noch auf die letzte allgemeine Mitgliederversammlung Halle, wie sie jetzt genannt wurde, vom Jahre 1934 hingewiesen. Dort erfolgte die schon erwähnte Vorstandsänderung. Es sprachen auf ihr gewissermaßen noch einmal, gleichsam als Ausklang, philosophische Persönlichkeiten wie Paul Menzer, Eduard Spranger, Gerhard Krüger, Julius Ebbinghaus u. a. Die Themen bezogen sich fast ausschließlich auf Kant, mit Ausnahme des politischen Vortrages von Kollreuther. 1936 kamen die Kant-Gesellschaft, zugleich aber auch die Kant-Studien praktisch zum Erliegen. Liebert ging nach Belgrad und hat dort eine eigene Zeitschrift „Philosophie“ auf kurze Zeit herausgegeben. 1942 wurde Heyse mit der Führung der Kant-Studien von oben her beauftragt. Noch ein Jahrgang wurde unter seiner Ägide (Band 44) herausgegeben, der aber durch Bombenangriff vernichtet wurde. Nur ein Exemplar blieb erhalten, das nachgedruckt wurde. Es folgte nun ein Interregnum, bis 1954 durch Bemühungen von Menzer und Martin die Kant-Studien im Auftrag der Landesgruppe Rheinland-Westfalen unter Mitwirkung eines größeren Stabes von in- und ausländischen Herren wieder herausgegeben wurden, die zu lesen wir uns alle erfreuen können. Hatte man auf einer Generalversammlung gesagt, keine Kant-Studien ohne Vaihinger, alsdann keine Kant-Studien ohne Liebert, so müssen wir heute, da Paul Menzer nicht mehr mitwirken kann, sagen, keine Kant-Studien ohne Martin.

   Wie wir wissen, bildeten sich bald verschiedene Ortsgruppen, um das philosophische Leben im Geiste Kants, im weitesten Sinne des Wortes verstanden, zu pflegen. Die Studien vom Jahre 1929 (Band 34) können 44 Ortsgruppen angeben, so daß die Kant-Gesellschaft, wie es in dem Berichte heißt, mit etwa 4000 bis 4500 Mitgliedern die „größte philosophische Gesellschaft der Erde“ wurde. Selbst in Boston, USA, hatte sich eine Ortsgruppe gebildet. Im Wintersemester 1924/25 z. B. sprachen in der Landesgruppe Westdeutsches Industriegebiet ein Heimsoeth, Nicolai Hartmann, Heidegger, Scheler, Kroner, Driesch. Einige Ortsgruppen haben die Zeit überdauert, so in Berlin, Minden, München, Erlangen, zu denen noch die in Hannover, Düsseldorf, Köln erneut hinzugekommen sind. Die Wirkungsbreite der Kant-Gesellschaft und Kant-Studien war somit eine große. — Es sind auch die außerordentlich wertvollen Publikationen der Ergänzungshefte seit 1906 zu nennen, über die jeweils in den Studien berichtet wurde. Seit 1930 erschien die Reihe „Philosophische Vorträge“. Nr. 32 z.B. enthält Nicolai Hartmanns Vortrag über das Problem der Realitätsgegebenheit. Die Vortragsfolgen stellten sich zur Aufgabe, ein „abgerundetes Bild der gesamten gegenwärtigen Philosophie in all ihren Strömungen und Schattierungen zu bieten“. Die Titel aller Hefte sind jeweils am Ende eines Heftes wiederholt. Auch seien die vorübergehend, seit 1925 erschienenen „Philosophischen Monatshefte der Kant-Studien“ erwähnt, um, wie es lautet, „einen treuen Spiegel der gesamten Kultur des In- und Auslandes“, wiederum betont nicht richtungsgebunden, zu vermitteln. Von Interesse für die Gegenwart dürfte auch sein, daß in Verbindung mit der Kant-Gesellschaft 1930 eine Zeitschrift „Der philosophische Unterricht“ herausgegeben wurde, die freilich keinen Bestand hatte, in der aber Männer wie Rickert, Spranger, Stenzel Wust mitwirkten. Man ging von der richtigen Erkenntnis aus, daß nur eine Kenntnis der die Menschheit bewegenden philosophischen, damit geistesgeschichtlichen Grundfragen den jungen Menschen befähigt, eine Distanz zu den Tagesereignissen zu gewinnen, eine selbständige Stellungnahme zu erlernen, die inneren Zusammenhänge zu sehen, um nicht — man erlaube mir den Ausdruck – zum Treibholz in den Fragen des Gemeinschaftslebens zu werden.

   Über das Mitwirken der Kant-Studien oder der Kant-Gesellschaft an der Kantausgabe der Berliner Akademie der Wissenschaft unter Leitung von Dilthey (Band 1, 1897) wurde fortlaufend in den Studien berichtet. Eine eingehende Orientierung wird z. B. in Band 8, 1913, von E. v. Aster geboten. Einen großen Ansporn für die philosophische Arbeit gaben die Preisausschreiben der Kant-Gesellschaft, welche mit dem Jahr 1907 begannen. Das beurteilende Gremium bestand zunächst aus Riehl, Heinze und Vaihinger, und es war immer ein feierlicher Akt, wenn die Ergebnisse auf den Tagungen bekanntgegeben wurden. Es sei z. B. erwähnt die Rudolf-Stammler-Preisaufgabe — sie wurde immer nach dem Themasteller genannt – über das Rechtsgefühl 1913 (Band 18). Eine große praktische Hilfe für das Studium über Kant ist die Zusammenstellung der Kant-Dissertationen seit 1885, welche in den Kant-Studien, Band 51, Heft 2 (1959/60), erschienen ist.

   Bevor wir uns der Bedeutung, vor allem der anfänglichen Entwicklung der Kant-Studien, zuwenden, scheint es wünschenswert zu sein, über ihren Begründer und langjährigen Geschäftsführer, Hans Vaihinger, einige Worte zu sagen. Als er wegen Erblindung seine Stelle als Geschäftsführer aufgab, wurde in der Bekanntgabe von seiten des neuen Ausschusses und der Geschäftsführung seine „überparteiliche Einstellung, die keiner besonderen Richtung oder Schule einen einseitigen Vorzug gab“, hervorgehoben (Band 31, 1936). Ja, er sagte selbst, daß die Mitglieder nicht „irgendwie zur Gefolgschaft gegenüber der Kantischen Philosophie“ verpflichtet seien (Band 20, 1915, S. 35). Später wurde dann nach seinem Tode am 7. 12. 1933 von Del Negro sein philosophisches Werk in einem Nekrolog gewürdigt (Band 39, 1934). Darin wird gesagt, daß Vaihinger stets die Größe Kants ausdrücklich anerkannt habe, aber dem transzendental-philosophischen Denken in seiner „Philosophie des Als-ob“ eine selbständige Note als Fortsetzung des Wirkens Kant gab, ob wir Vaihinger nun folgen wollen oder nicht. Anknüpfend an Kants Lehre von dem „Als-ob“ in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten verallgemeinert er diese und macht sie zum Grundgedanken seines eigenen Systems. Gegenüber Cohen verteidigt er den Gedanken Kants, daß die Annahme eines „Dinges an sich“ für ihn eine notwendige gewesen sei. Jedoch all unser Bemühen kann sich nur auf „inadäquate, subjektive Vorstellungsweisen“ beschränken, welche den Empfindungsinhalt niemals überschreiten dürfen. Wir deuten sie nicht nach Art eines empirischen Psychologismus, sondern, wie Vaihinger sagt, „sozusagen einer Transzendentalpsychologie“. Sie erlaubt uns, von Vorstellungsgebilden der Welt als einem „ungeheuren Gewebe von Fiktionen“, denen aber eine praktische Funktion zukommt, zu sprechen. Wahrheit wird zum zweckmäßigsten Irrtum. Er bezeichnet seine Auffassung selbst als einen „positivistischen Idealismus“ und nähert sich den Auffassungen des amerikanischen Pragmatismus. Zu der Erneuerung des Positivismus in der Wiener Schule hatte er keinen Bezug, da sie ihm unfruchtbar erschien. Er spricht den unentbehrlichen „Fiktionen“ einen höchsten Wert zu, so den Idealen, den ethischen Vorschriften, dem kategorischen Imperativ, den religiösen Ideen, da sie die Lebensintensität steigern. Von dieser Warte aus konnte er allen echten philosophischen Haltungen ein weitgehendes Verständnis entgegenbringen.

   Betrachten wir nun die Entwicklung der Kant-Studien, so fällt auf, daß bis Jahrgang 18 (1913) fast alle Aufsätze ein Thema Kants zum Objekt haben. Jahrgang 19 sind es von 15 Abhandlungen nur noch drei, ähnlich in den folgenden Jahren. Jahrgang 24 (1920) bringt keinen Artikel über Kant. Später in Jahrgang 33 (1928) äußert sich Arthur Lieben über Immanuel Kant in neue Form gebracht und Vorländer über Goethe und Kant. Es wurde demnach der Radius der Themenstellung wesentlich weiter gezogen, und wir beobachten ein starkes Hervortreten der neukantischen Philosophie unter besonderer Beteiligung von Rickert, Bauch, Natorp, Cassirer, Hönigswald und Riehl. Die Vertreter der damals neuartigen Phänomenologie wie Husserl und Scheler oder der späteren Existenz- und Existentialphilosophie sind nicht, auch später nicht, beteiligt. Hingegen Nicolai Hartmann veröffentlichte bereits 1910 einen Aufsatz über Methode der Philosophiegeschichte (Band 15), alsdann über die Beweisbarkeit des Kausalgesetzes (Band 24, 1920), und einen sehr verehrungsvollen und wertschätzend gehaltenen Nachruf auf Max Scheler (Band 33, 1928), über dessen materiale Wertethik E. v. Aster in dem gleichen Heft berichtete.

   Es sei ferner auf die fortlaufende Darstellung der Deutschen Philosophie der Jahre 1906 bis 1912, beginnend mit Band 12, durch Oskar Ewald, Wien, besonders eingegangen. Es handelt sich nicht um Sammelreferate, sondern es gelingt dem Verfasser, die geistig-philosophische Entwicklung in ihrer Gesamtheit darzustellen. Natürlich kann hier nur stichwortartig darauf hingewiesen werden. 1906 weist er auf den polymorphen Charakter des Kantischen Kritizismus hin, zeigt die Wiedergeburt des Hegelianismus an. Jedoch sei das metaphysische Interesse zugunsten methodologisch-erkenntnistheoretischer Fragen wieder zurückgetreten. Es wird auf die Scheidung zwischen Transzendentalismus und Psychologisrnus eingegangen. Gleichzeitig stellt er einen größeren Einfluß Goethes und Kants fest, sofern sie, wie er meint, beide auf transzendente Werte und Ideale hinweisen.

   In dem Bericht von Ewald über das Jahr 1910 (Band 18) finden wir anläßlich des 70. Geburtstages von Cohen eine besondere Würdigung des Kantianismus der Marburger Schule: Cohens reine Methode des Denkens – wird etwa ausgeführt — ist vorbildlich. Sie ist eine unendliche Bewegung, denn ein absolut Denkfremdes kann es nicht geben. Dieser Neukantianismus stellt eine äußerste Erweiterung der Logik dar. Das Sein wird logisiert, ohne, im Gegensatz zum Hegelianismus, die Dynamik zu bekennen. Eine solide Denkrichtung mußte das Ding-an-sich rationalisieren und die heute so angegriffene Gegenständlichkeit setzen. Jedoch, meint Ewald, bleibt auch hier ein Bestimmungsloses, ein Rest, ein Faktum der Existenz übrig und würde, wie er bereits sieht, zu weiterer Entwicklung metaphysischer Art führen. Frischeisen-Köhler habe daher in seiner Abhandlung über das Realitätsproblem zur Erklärung der Realität einen voluntaristischen Weg beschritten und den rein logischen Standpunkt abgelehnt.

   Es sei hinzugefügt, daß wir in späterer Zeit (Jahrgang 46, 1954/55) Hans Georg Gadamer eine Darstellung der philosophischen Bedeutung Paul Natorps verdanken, in welcher von der Erzeugung der Realität durch das reine Denken gesprochen wird. Die Einheit von Theoretik und Praktik sollte in der „allgemeinen Logik“ Natorps erst ihre volle Universalität erreichen. Dennoch sieht Natorp, in der Auseinandersetzung mit Bruno Bauchs Kant-Buch, das schwerwiegende Problem der Individualbestimmunq, besonders in der Ethik, und dominant in der religiösen Frage, in der Frage nach der absoluten Individualität Gottes. „Der Logos, d. h. die Sinnhaftigkeit des Seins als des Unzerstückten, des Unkonkreten, liegt aller Bestimmung von Sinn, aller Rationalität immer schon voraus.“ Das gerade sei die entscheidende Einsicht der allgemeinen Logik Natorps, daß sie am „Irrationalen, am Leben keine Grenze hat“, sondern daß sie „in der Wirklichkeit der Spannung zwischen Rationalität und Irrationalität, zwischen Begriff und Existenz, in ihrer Koinzidenz den Logos selbst, den Sinn enthält“. Damit werden wir vor die Unendlichkeit einer Aufgabe gestellt. Natorp habe „im konsequenten Weiterdenken die systematischen Antriebe Fichtes und Hegels bewußt aufgegriffen“, ja, in seiner Spätzeit sich mystischen Gedanken zugewendet. Natorp hat auch selbst auf der Generalversammlung 1912 über Kant und die Marburger Schule gesprochen (Kant-Studien 17, 1912). Hierin will er gerade das Gemeinsame der transzendentalen Methode mit Cohen betonen. Sie macht nach Natorp die Autonomie der Erfahrung gegenüber der Heteronomie eines Metaphysizismus und eines gesetzesfeindlichen Empirismus geltend. Erfahrungsbestimmtheit ist Denkbestimmtheit. Auch die Anschauung ist kein denkfremder Faktor. „Das alles ist reiner Idealismus.“ Die Ethik ist Logik möglicher Erfahrung. Aber als „unendliche Aufgabe“ stellt sie uns „mitten in das Wagnis des Werdens“ hinein. Er wendet sich zugleich scharf dagegen, daß Windelband und auch von Aster seine Logisierung als schlechthinnige Naturalisierung angesprochen haben. Logos ist umfassender. Er schließt Naturphilosophie und Kulturphilosophie oder Geisteswissenschaften mit ein.

   Cohen kam allerdings in den Kant-Studien weniger zu Worte. Es wurde dieses sogar den Kant-Studien öffentlich zum Vorwurf gemacht, wogegen sich Vaihinger (Band 13, 1908, S. 507) wehrt, sofern Cohen zur Mitarbeit eingeladen worden sei. Aber er wolle aus seiner einsamen Zurückgezogenheit in der Schweiz nicht heraustreten. Ins Jahre 1910 hat er dann seinen einzigen kurzen Beitrag, einen Nachruf auf August Stadler, geliefert, und man würdigte ihn in dem darauffolgenden Bande (16, 1911) durch eine Abhandlung von A. Köster über Cohens Logik der reinen Erkenntnis.

   Sehr stark trat von der Heidelberger Schule Rickert hervor. Von geschichtlichem Interesse ist eine Abhandlung über Zwei Wege der Erkenntnistheorie: Transzendentalpsychologie und Transzendentallogik (Band 14, 1909), worin er sich sehr eindeutig gegen den Psychologismus wendet. Mag die Transzendentalpsychologie „als Weg der Erkenntnistheorie“ sich auf Gefühle berufen, die nach Rickert im Unterschied zu Scheler nur psychische Zustände sind und nicht gegenständlich intentional, so gehst die Transzendentallogik auf den Sinn aus, auf das „vom Denkakt Unabhängige“. Nur so dringen wir zu „zeitloser“ unbedingter „Geltung“, zum „transzendenten Werte“ vor. Die Transzendentalpsychologie kann uns nur die Lehre vom immanenten psychischen Urteilsakte vermitteln. Er fordert abschließend eine „Wissenschaft, die nicht nach dem Sein, sondern nach dem Sinn, nicht nach dem Tatsächlichen, sondern nach der Geltung, nicht nach der Wirklichkeit, sondern nach den Werten fragt, also kurz, um mit Kant zu reden, keine quaestio facti, sondern eine quaestio juris stellt“. Leider ist hier nicht die Möglichkeit, auf spätere Artikel wie Über logische und ethische Geltung (Band 19, 1914) oder Kennen und Erkennen (Band 39, 1934) einzugehen. Es wäre auch wünschenswert, auf die Beiträge der anderen mehr oder weniger neukantischen Denker zu sprechen zu kommen, so auf die drei Aufsätze von Cassirer, den von Windelband, Bruno Bauch und Hönigswald. Ich darf wohl noch hervorheben, daß Ernst Troeltsch auf der Generalversammlung von 1922 über Die Logik des historischen Entwicklungsbegriffes und Graf Keyserling über den Weg des wahren Fortschrittes gesprochen haben. In Band 29 (1924) finden wir auch von Liebert den Nachruf auf Troeltsch: Der Historismus und seine Überwindung. Es sollten hier aus dem Reichtum der Veröffentlichungen der verschiedenen Vertreter der Neukantischen Philosophie nur einige Proben geboten werden, da sie mit anderen die Hauptträger der frühen Kant-Studien gewesen sind, mag auch ihre Philosophie heute stärker zurückgetreten sein.

   Da an dieser Stelle vornehmlich nur auf die frühen Zeiten der Kant-Studien eingegangen werden kann, sei noch auf eine interessante Kontroverse hingewiesen, die durch Friedrich Paulsens Aufsatz Kant, der Philosoph des Protestantismus (Band 4, 1900) in Abwehr des dreibändigen Werkes von Otto Willmann, des Wiener Pädagogen und Philosophen, Geschichte des Idealismus, ausgelöst wurde. Es wird mit Recht Willmanns Mißdeutung von Kant im Sinne eines Subjektivismus und Skeptizismus abgelehnt. Das typisch Protestantische sieht Paulsen darin, daß es in seinem Ursprung und Wesen „irrationalistisch“ sei — vielleicht würden wir heute eher sagen „arational“, weil das Wort irrational so sehr vorbelastet ist. ,,Die Vernunft“, sagt Paulsen, „kann von Glaubenssachen nichts erkennen; das ‚Wort Gottes‘ ist die einzige Quelle des Glaubens.“ So wollte Kant „das Wissen aufheben, um dem Glauben Platz zu machen“. Ferner hebt Paulsen Kants Moralprinzip hervor: „Der Wert des Menschen liegt zunächst in der Form der Willensbestimmtheit (worunter selbstverständlich nicht Willkür zu verstehen ist), nicht in der Materie des Wollens.“ Es wird niemand in Frage stellen, daß hier aus Kant der ganze geistige und religiöse Hintergrund spricht, der ihm eigen war. Gewiß, es wird der weltweite Protestantismus wohl vieles in Kant sehen, was seiner religiös-geistigen Haltung entspricht, aber er wird nicht in ihm den authentisch-philosophischen Ausdruck seiner religiösen Grunderfahrung erblicken denn das würde bereits nicht mehr von Schleiermacher, dem Verfasser einer evangelischen „Glaubenslehre“ und der „Dialektik“, gelten. Diese Diskussion führte auch zu dem feinsinnig abwägenden Artikel von Gottfried Fillbogen über Kants Lehre vom radikal Bösen, die der strengen evangelischen Lehre von der Erbsündigkeit korrespondiert (Band 12, 1907). Kants Gedanken nachzuvollziehen, habe er seinen Lesern wahrhaftig nicht leicht gemacht. Daraus sei auch Herders und Goethes scharfe Ablehnung zu erklären, welch letzterer sogar von dem Schandfleck des radikal Bösen bei Kant spricht. Es wäre wohl diese Lehre ein harter Gedanke, aber doch ein tiefer Einblick in die menschliche Unzulänglichkeit und seinen Hang zum Bösen, den Kant gerade durch sein hohes Ethos des kategorischen Imperatives und der Pflicht übersteigen wollte.

   Etwas polemisch klingen die Worte von Bruno Bauch (Band 13, 1908) die er in einer der Gegenwart wohl nicht mehr liegenden Weise gegenüber den mitunter auch sehr heftigen Kritikern an Kant, den, wie er damals sagte, Ultramontanen, findet, im Unterschied zu Fritz Medicus’ überlegenem Artikel: Ein Wortführer der Neuscholastik und seine Kantkritik (bereits Band 5, 1901). Darin erkennt Medicus das Bemühen des Begründers der Löwener Schule, Mercier, an, Kant zu verstehen. Aber seine Annahme, daß es sich bei Kant um eine synthèse subjective interieure à l’expérience fatale et aveugle handelt, sagt Medicus mit Recht, geht an Kant vorbei. Diese Auseinandersetzung rief schließlich auch Vaihinger selbst auf den Plan (Band 21, 1917), als Hugo Bund — sein richtiger Name war Hugo Ocziptsa —, selbst aber evangelisch, gegenüber der oben genannten Auffassung von Paulsen (Kant der Philosoph des Protestantismus) die Kantische Philosophie, sagen wir einmal im Sinne von Bund, als eine uneinheitliche coincidentia oppositorum angriff. Vaihingers ausgewogene Art und gute Kenntnis von Kant war in der Lage, den Hauptvorwurf, daß Kant unredlich von „metaphysischer Realität“ spreche, während er im Grunde genommen nur einen bloßen Anthropomorphismus vertrete, zu beantworten. „Ich habe nun“, sagte er, „eine große Anzahl von Stellen bei Kant ... untersucht, welche mir dafür zu sprechen scheinen, daß bei Kant ... der praktische Glaube an jene Gegenstände (gemeint sind die Postulate Gott, Freiheit, Unsterblichkeit) ein sittliches Gebot für den Menschen sei, derart, daß er seine Handlung in strengster Gewissenhaftigkeit so einzurichten habe, als ob jenen Gegenständen absolute Existenz vindiziert werden müsse.“ Für Kant wäre demnach etwa „Gott weniger ein Substanzbegriff als ein Wertbegriff“. Die gehobene Aussprache über religiöse Haltungen führte schließlich dahin, daß Erich Przywara (Band 38, 1928) in seiner Abhandlung Die Problematik der Neuscholastik schreibt, daß die von ihr vertretene Philosophie durch Kant und die anderen innerdeutschen Bewegungen zu einer „Umformung“ gekommen sei, wofür er einige Namen angibt. Besonders wird auf Maréchal-Louvain hingewiesen, sofern er eine «transposition» seines Thomismus auf die Ebene der Kantischen erkenntniskritischen Fragestellung versucht, um den Apriorismus Kants methodisch mitzuvollziehen. In seinem Artikel Das augustinische Geistmotiv und die Krise der Gegenwart (Band 35, 1930) sieht Przywara im Augustinismus eine Berührung zur Moderne gerade darin, daß für ihn das „intellegere wesenhaft vom credere aus lebt“. Sehr anregend ist auch die Diskussion zu Kants „Gotteslehre“ (in Band 48, 1956/57) zwischen W. A. Schulze-Freiburg und Kopper-Saarbrücken, in welcher es sich darum handelt, in welchem Maße eine Interpretation des Opus postumum mit Gedanken von Anselm v. Canterburys Proslogion in Beziehung gebracht werden könne. Aus der jüngsten Zeit sei auch Band 43, Heft 2 (1956/57) hervorgehoben, welches Heinz Heimsoeth zum 70. Geburtstag gewidmet wurde und eine deutlich geistesgeschichtliche Note trägt.

   Bevor meine Darlegungen abgeschlossen werden, sei aber mit einer dankenden, anerkennenden und hochschätzenden Würdigung auf P a u l M e n z e r eingegangen, der seit 1924 die Kant-Studien betreute und erst vor kurzem, am 21. Mai dieses Jahres, von uns gegangen ist. — Paul Menzer wurde am 3. März 1873 in Berlin geboren, war seit 1900 Dozent an der Universität Berlin, a.o. Professor in Marburg 1906 und seit 1908 Ordinarius an der Universität Halle. Wir hatten noch die Freude, ihn auf dem ersten Philosophenkongreß nach dem Zusammenbruch in Mainz 1948 zu begrüßen und mit ihm, leider zum letztenmal, in einen freundschaftlichen geistigen Austausch treten zu können. Ihn interessierte in besonderem Maße die innere Entwicklung Kants. So hat er auch mit Dilthey zusammen durch 25 Jahre hindurch an der Kant-Ausgabe der Berliner Akademie der Wissenschaften mitgearbeitet und übernahm die Ausgabe von Band 2, 5 und 8. Menzer berichtet selbst in Kant-Studien Band 49 (1957/58) eingehend darüber, vor allem auch über die Meinungsverschiedenheit, ob man nicht die, freilich sehr unzulänglichen, Nachschriften von Kants Vorlesungen übernehmen solle, was schließlich dann nicht geschehen ist. Anders war es mit dem Opus postumum, worum sich Menzer immer bemühte. Darüber hat dann Adickes in den Ergänzungsheften der Kant-Studien (Nr. 50) eingehend geschrieben. Schließlich ist es 1955 noch dazu gekommen, einen Band 23 der Berliner Akademie-Ausgabe herauszugeben, welcher noch Nachträge Kants von den Jahren 1754 bis zu Fragmenten zum Opus postumum enthält.

   Ich kann hier nicht auf die zahlreichen Aufsätze von Menzer in den Kant-Studien eingehen, wie etwa über die Neue Spinoza-Ausgabe (Band 32, 1927), über Pestalozzi und die Kantische Philosophie (Band 32, 1927) sowie die Neue Pestalozzi-Ausgabe (Band 33, 1928). Seine besondere Beschäftigung mit der Pädagogik führte auch zu der Schrift Leitende Ideen in der Pädagogik der Gegenwart (1926). Menzer hat uns selbst als seine ersten Werke eine Abhandlung über den Entwicklungsgang der Kantischen Ethik (1897/98), alsdann eine hochbedeutsame Veröffentlichung über Kants Lehre von der Entwicklung in Natur und Geschichte geschenkt (1911). Ein irgendwie verwandtes Thema behandelte er auf der Generalversammlung 1911, auf der erstmalig ein philosophischer Vortrag geboten wurde: Kants Geschichtsphilosophie im Zusammenhang mit der Geschichtsauffassung seiner Zeit. In dem größeren genannten Werke handelt es sich darum, die innere Kontinuität in Kants Denken von seiner Schrift Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels bis zur Kritik der Urteilskraft aufzuzeigen. Ist, führt Menzer über Kant etwa aus, eine planvoll angelegte Entwicklung yon ursprünglich natürlichen Bedingungen zu einem Ziel hin anzunehmen? So taucht, die mechanische Naturerklärung übersteigend, der teleologische Gedanke auf. In diese Problemstellung gehört dann auch bei Kant der Entwicklungsgang der menschlichen Kultur und Geschichte hinein. Aber der Mensch ist Natur- und Vernunftwesen, dem Freiheit zukommt. Hier wird ein Selbstzweck über die Natur hinaus durch den menschlichen Willen geschaffen, und wir beschreiten die Ebene des Übersinnlichen, ja, wenn auch allein im religiösen Gebiete, das Gebiet des Transzendenten. Daß ein Endzweck angenommen wird, läßt sich nicht aus der Erfahrung belegen. So begnügt sich Kant auf Grund der sittlichen Forderungen und des Gedankens seiner intelligiblen Welt damit, eine Aufwärtsentwicklung der Menschheit geschichtsphilosophisch zu postulieren, wie es denn später euch bei Fichte und Schelling der Fall war. Menzer stellt dann auch die Frage, ob die „Vermögen im Sinne Kants nicht einer psychologischen Entwicklung unterliegen. Hier widerspricht ihm allerdings v. Aster, denn die Vermögen hätten bei Kant eine erkenntnistheoretische Bedeutung als Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis, und er nehme deshalb die Konstanz der Vermögen an.

   Menzer schließt sich selbst erkenntnistheoretisch Kant an, will aber seine Lehre in realistischer Hinsicht ergänzt wissen. Gleichzeitig wendet er sich, dem Strome der Zeit entsprechend, mehr den metaphysischen Fragen zu. Seine innere Beteiligung daran fand ihren Niederschlag in Deutsche Metaphysik der Gegenwart (1931) und in der Veröffentlichung Metaphysik (1932). Darüber hat er selbst auf der Generalversammlung 1925 gesprochen, welche überhaupt das Thema „Verhältnis zur Metaphysik“ sich gestellt hatte. Menzer erkennt das neuerwachte Streben, über erkenntnistheoretische Fragen hinaus zu metaphysischen vorzustoßen, an. Aber es darf nicht „mit sinkender philosophischer Gewissenhaftigkeit“ gepaart sein. Eine rein gefühlsmäßige, schwankende, irrationale Unterbauung sei unzulänglich, würde auch dem Geiste Kants widersprechen. Ohne denkende begriffliche Bestimmung ist der Weg nicht bestreitbar. Menzer zeigt sich ferner sehr durch das neu aufkommende Problem des Lebens und seiner Gefühlsfaktoren beeindruckt. Aber euch hier sagt er: ,,Das Gefühl vereinsamt den Menschen oft mehr als verstandesmäßige Anerkennung der Notwendigkeiten des Lebens. Lebensphilosophie bedarf daher der „Ergänzung durch Metaphysik“. Auch das Leben verlangt nach „Prinzipien wie Ordnung, Formkraft oder Schicksal“. Freilich, meint Menzer, schillert der Beqriff Metaphysik „heute in allen Farben“. Aber haben wir doch „den Mut zu fragen“, zum „Hindrängen zu neuen Antworten“. Es schwebt ihm vor, die Frage nach den Lebenswerten mit metaphysischen Ausblicken zu verbinden.

   Diese Lebensproblematik führt ihn offensichtlich dahin, einmal die Deutsche Philosophie als Ausdruck deutscher Seele zu untersuchen, worüber er auf der letzten Generalversammlung 1934 gesprochen hat, nachdem bereits 1925 von ihm eine Schrift über Das Wesen des deutschen Geistes erschienen war. Gerade wegen der Gewissenhaftigkeit unserer Haltung, meint er, ist bei uns nie eine rein empirische Philosophie führend hervorgetreten, denn sie reicht für unser philosophisches Ethos nicht aus. Wir wollen zu tieferen Fragen vordringen. Er weist auf die Innigkeit der deutschen Mystik hin, auf die Forderungen des Gemütes, auf die Spontaneität des Ich, auf den Gedanken geistiger Freiheit und die Hinwendung zum Ganzen. Charakterisiere doch, sagt Menzer, selbst unser Mitarbeiter an den Kant-Studien, der französische Gelehrte Boutroux, la pensée allemande (12. 5. 1914) mit den Worten l‘idée de tout, développement infini, Werden und Streben zu einer unendlichen Aufgabe. Das sind zweifelsohne eigene Züge, die sich in unserem Denken immer wieder anmelden.

   Mit derartigen Fragen des geistigen Kulturlebens und seiner Hintergründe beschäftigt sich Menzer dann eingehender in der Nachkriegszeit. 1953 veröffentlicht er in den Kant-Studien (Band 45) eine Abhandlung über das Freiheitsgefühl. Es ist der Mittelpunkt unseres Selbstbewußtseins, Bedingung der Selbstbildung, und es sagt uns: ,,Über die Welt des Seins erhebt sich die der Werte“, „immer größere Reinheit fordernd“. Das Freiheitsgefühl erfährt so seine ‚letzte Innerlichkeit“ „Die Forderung nach persönlicher, nach Glaubens- und Gedankenfreiheit, Freiheit von Wissenschaft und Kunst“ ist uns wesenseigentümlich. Trotz seiner Betonung der Rechtfertigung vor dem Denken hat Menzer doch stets das schöpferische Gefühl, die Unmittelbarkeit des ästhetischen Empfindens gefesselt, weswegen er in zwei Aufsätzen die Beziehung zwischen Schiller und Kant vornehmlich unter dem ästhetischen Aspekte, natürlich auch dem ethischen behandelte (Kant-Studien Band 10, 1905, und Band 47 in zwei Folgen, 1955/56). Schiller, sagt er darin, sucht „die Verhüllung der Wahrheit und Sittlichkeit in der Schönheit“. So begegnet Schiller Kants Kritik der Urteilskraft, und doch können wir nicht fragen, „inwieweit“ Schillers Ästhetik nun kantisch sei. Aber unter Kants Einfluß wendet er sich dem Mitgefühl im tragischen Erleben und der Lehre vom Erhabenen zu. Das Schöne ist für Schiller ein Übersteigen der Erkenntnis- und Willenskraft, sagen wir der reinen und praktischen Vernunft zugunsten der Kritik der Urteilskraft. Es trägt aber ein rationales Element, das Zweckmoment, in sich, welches dem ästhetischen untergeordnet bleibt. Mit dem Ethischen führt er uns zur Geistesfreiheit.

   Eine letzte größere Veröffentlichung hat uns Paul Menzer als Ergänzungsheft 72 der Kant-Studien 1957 überreicht: Goethes Ästhetik. Gleichzeitig erschien von Matthijs Jolles-Chicago das Werk Goethes Kunstanschauuung, und beide Darstellungen ergänzen sich in auffallender Weise. Menzer geht chronologisch vor, weist auf die klassische Wendung hin und den späteren Einfluß von Schiller. Kunst ist sich nach Goethe nur selbst zu Diensten, erwächst aus der Echtheit und Reinheit des Empfindens aus dem liebenden Vertrauen zur Natur und ihren schöpferischen Mächten in uns. Aber auch das Naturschöne öffnet und edle Formen ihres Daseins. Dann wird der Künstler ein Offenbarer der Geheimnisse der Natur. Durch Schiller drängen idealistische Gedanken auf Goethe ein. Die Idee wird zum wirkenden Prinzip im künstlerischen Schaffen und gewinnt die Bedeutung des Symbolhaften. Sie führt vom wahrhaft Realen zum Idealen, eine Absage an den Naturalismus. Goethes Interesse wendet sich nun vornehmlich der bildenden Kunst zu, welche in der Plastik das Auge — bezeichnend für Goethe – gefangen hält. Das hatte ihn seine Italienreise gelehrt, und er sah, wie hinter allem das Idealbild der Antike stand. Jedem künstlerischen Wert ist eine Bedeutung gegeben, eine Ahnung von einem höheren Bezug. „Den Stoff sieht jedermann“, sagt Goethe, „den Gehalt findet nur der, der etwas dazuzutun hat, und die Form ist ein Geheimnis den meisten“ (aus Kunst und Altertum). Aber wir dürfen auch die moralische Folqe nicht übersehen, so daß Poesie ein weltliches Evangelium wird. Der Gedanke der Humanität findet hier Anwendung auf das Individuum als Glied einer höheren Gemeinschaft. Darum wiederholt er abschließend die Worte Goethes:


    Natur und Kunst, sie scheinen sich zu fliehen
    Und haben sich, eh man es denkt, gefunden. –
    Vergebens werden ungebundne Geister
    Nach der Vollendung reiner Höhe streben. —
    In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister,
    Und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben. —

   Solche Gedanken hat uns Paul Menzer vorgetragen. Er wollte mit Berufung auf Kant in seinem Aufsatz „Kants Persönlichkeit“ (Band 29, 1924) uns nicht Philosophie, sondern philosophieren lehren. Wir werden uns in der Kant-Gesellschaft ihm stets innigst verbunden fühlen.

   Damit möge das Referat abgeschlossen sein. Es sollte hier nur einen auswählenden Einblick in die Leistungen und das vielseitige Geistesleben in den Kant-Studien und in der Kant-Gesellschaft bieten, der wir alle in besonderem Maße verpflichtet sind.