Rudolf Malter – ecce philosophus exemplaris Rudolf Malter in memoriam (Rede Gerhard Funkes anläßlich der Akademischen
Trauerfeier für Rudolf Malter am 24.6.1995 in Mainz) Rudolf Malter, einer der namhaftesten Kantforscher der
Zeit und seit 1993 Erster Vorsitzender der Kant-Gesellschaft e. V. Bonn,
ist tot. Der am 30. Juli 1937 in Spiesen-Elversberg Geborene verstarb,
erst 57 Jahre alt, völlig überraschend am 2. Dezember 1994 in
Mainz, ein zu früh Vollendeter in der Philosophie der Gegenwart. Sein
Tod stellt für die akademische Welt und nicht nur für den Kreis
der Kantianer einen schweren
Verlust dar. In Mainz war der Assistent Malter nach 1969 seßhaft
geworden, als sein Saarbrücker Doktorvater Joachim Kopper hier den
Rintelen-Lehrstuhl übernehmen konnte, und in Mainz hatte 1969 die
unter schwierigen deutsch-deutschen Umständen von Gottftied Martin
und Ingeborg Heidemann in Bonn neu gegründete Kant-Gesellschaft ihr
festes Arbeits- und Organisationszentrum gefunden. In ihm ist Rudolf Malter
zu einem Mann der ersten Stunde geworden – als kenntnisreicher Mitarbeiter,
als anregender Mitgestalter und als freundlich ratendes gutes Gewissen. Die Ziele, die sich der Initiator einer systematischen
Kantforschung, Hans Vaihinger, in Halle mit der Begründung der ersten
Zeitschrift Kant-Studien 1896 bzw. mit der Organisation der ersten Kant-Gesellschaft
1904 gesetzt hatte, blieben in Geltung. Sie waren nur während des
sogenannten Dritten Reiches zeitweilig und in der sogenannten DDR
anscheinend endgültig obsolet geworden. Bei der Neubegründung wurden
sie 1969 in Bonn/Mainz vom ersten Augenblick an als Wiederholung des
Erbes aufgegriffen. Hier fühlte sich Rudolf Malter angesprochen.
Entscheidend wurde für ihn die nicht forcierte Herstellung eines Geflechtes
internationaler wissenschaftlicher Zusammenarbeit und zugleich die Pflege
sachfördernder, menschlicher Beziehungen. Hier wie da war er mit dem
Herzen dabei. Zur Förderung der sachlichen Arbeit hat er für
die Kant-Studien den Besprechungsteil besonders verstärkt. Eine
umfassende Sach- wie Menschenkunde setzte ihn in den Stand, die benötigten
kompetenten Mitarbeiter zu gewinnen. Die Mitteilungen, die Malter für die Mitglieder
der Kant-Gesellschaft ins Leben rief, hatten ebenso wie der Rundbrief ihre
Funktion darin, daß sie auch den Zusammenhalt der interessierten
Mitglieder untereinander stärken helfen sollten.
In Mainz hat sich Malter auf den Arbeitsrahmen festgelegt,
in dem er seine wissenschaftlichen Lebenspläne entwickeln wollte.
Die umfangreiche Mainzer Habilitationsschrift aus dem
Jahre 1975 über Das reformatorische Denken und die Philosophie,
im Fachbereich von Joachim Kopper und Gerhard Funke vertreten, stellt eine
Brücke zu neuen Ufern dar. Der Untertitel Luthers Entwurf einer
transzendental-praktischen Metaphysik weist deutlich auf, wohin die Absicht
zielt: die Transzendentalphilosophie und die Metaphysik in eine angemessene
Beziehung zu setzen. Eine ebenso wesentliche Rolle kommt Malters umfassendem
Schopenhauerbuch von 1991 über Transzendentalphilosophie und Metaphysik
des Willens zu. In ihm tritt schon die soteriologische Funktion des
Systems hervor, die auch in späteren Spezialschriften Malters herausgestellt
wird. Und schließlich sollte das breit angelegte Unternehmen einer
kompakten Kantbibliographie (1748-1990), wie sie von Malter konzipiert und
auf den Weg gebracht worden ist, einer geistesgeschichtlichen Aufarbeitung
dieses bisher nicht im Gesamtzusammenhang dargestellten Überlieferungsbereiches
dienen. Hier hat Malter eine anspruchsvolle Aufgabe gesehen und ingeniös
angepackt, deren Ergebnis und Ertrag erst voll bei der Vorlage des ganzen
zu ermittelnden Materials ersichtlich sein wird. Aber bereits jetzt, bei
der bevorstehenden Veröffentlichung des ersten Bandes, wird die enorme
Energieleistung Malters und seiner Mitarbeiter sichtbar, die der Erstellung
dieses auf schließlich vier Bände berechneten Unternehmens vorausgeht,
das aere perennius zu werden verspricht.
Neben dieser als Aufgabe vorgestellten, wenngleich schon
weit geförderten Bibliographie liegt eine von Malter besorgte Ausgabe
Königsberger Kant-Ansprachen 1804-1945 unter dem Titel Denken wir
uns aber als verpflichtet... vor. Hier kommt unabhängig von der detaillierten
problemorientierten Kantforschung zur Geltung, was bei besonderem aktuellem
Anlaß sonst jeweils als Summe der Kantischen Existenz ins Bewußtsein
vermittelt wird.
Schließlich kann nicht vergessen werden, daß
der Historiker Malter den systematischen Philosophen Malter niemals ganz
verdrängt: sein besonderes Interesse für die Ästhetik verleugnet
er nie.
Rudolf Malters Name wird international vor allem mit einem
besonderen Zweig der wissenschaftlichen Forschung in Verbindung gebracht
Das hat seinen guten Grund. Malter selbst, ein Vorbild an Akribie, hat
von seinen Mitarbeitern und Schülern Genauigkeit im höchsten
Maße verlangt. Es erklärt sich also, daß er sich, in der
Verantwortung des akademischen Lehrers stehend, bemüht hat, eben die
Voraussetzungen zu schaffen, unter denen seine Forderungen durch seine
Schüler erfüllbar waren. Dazu gehört das Vorhandensein bzw.
die angemessene Bereitstellung eines zuverlässigen Arbeitsmaterials.
Malter fühlte sich dabei im wesentlichen für Kantisches verantwortlich.
Die zahlreichen Bibliographien, die Dokumentationen, die auf einen neuesten
Forschungsstand gebrachten Werkausgaben, die Revisionen der Standardliteratur,
die Kommentierung klassischer Einzelschriften, die, von Malters Hand bearbeitet,
in schneller Folge herauskommen – sie alle legen von Malters praktischem
Sinn und von der Bodenständigkeit seiner Forschung unmißverständlich
Zeugnis ab.
Kant-Gesellschaft und Kant-Studien verdanken Rudolf
Malter viel: sein Wirken als Mitglied des Vorstandes, als Zweiter Vorsitzender,
als Mitherausgeber der Kant-Studien (seit 1989) und schließlich
als Erster Vorsitzender trug nicht nur auf vielfältige und nachhaltige
Weise zur Förderung der Kantischen Philosophie, sondern auch zum wachsenden
Ansehen der Gesellschaft und ihrer Publikationen im In- und Ausland bei,
nicht zuletzt durch die Begründung einer Kant-Forschungstelle, deren
vier Abteilungen nach den Plänen ihres Leiters Malter dazu dienen
sollten, Arbeitsmaterialien zum Kantischen Werk und seiner Wirkungsgeschichte
für Kantforscher aus aller Welt bereitzustellen.
An den Mainzer internationalen Kant-Kongressen 1974, 1981
und 1990 war Rudolf Malter maßgeblich beteiligt. Von 1984 bis 1992
war er Präsident der Frankfurter Schopenhauer-Gesellschaft und Herausgeber
des Schopenhauer-Jahrbuchs.
Der an sich und andere hohe Ansprüche stellende und
sich stets der Sache verpflichtet wissende Universitätsmann Malter
war, wie dies seine Studentinnen und Studenten in ihrem Nachruf bezeugen,
ein großartiger, engagierter Lehrer, dessen Veranstaltungen zumeist
überfüllt waren. Er war aber zugleich und vor allem ein Lehrer
und Kollege, der in seiner Person wissenschaftliche nüchterne Kompetenz
mit Warmherzigkeit, Einfühlsamkeit und Hilfsbereitschaft vereinigte.
Die universitäre Kärrnerarbeit in Ausschüssen,
Gremien, Kommissionen und Redaktionsstuben, auch als Geschäftsführender
Leiter des Philosophischen Seminars, hat Malter nie gescheut. Aufgaben
zusätzlicher Art zu übernehmen, vermochte er – dabei weder Ruhm
noch Vorteil suchend – selten abzulehnen. Der in Forschung und Lehre, in
der akademischen Selbstverwaltung und in außeruniversitären
Bereichen unermüdlich Tätige schien unendlich belastbar. Er war
es schließlich nicht.
Rudolf Malter hat das Bild eines Forschers vorgegeben,
der noch ein Meister der alten Gelehrtenrepublik war und zugleich nach
einem modernen Zuschnitt arbeitete. Das Andenken hieran hat er als persönliches
Erbe hinterlassen.
Schüler, Mitarbeiter, Kollegen, Freunde, ebenso Verleger
und ihre Lektoren und ebenso schließlich und nicht zuletzt die Familienmitglieder
– sie alle haben einen guten Mann verloren, einen Gelehrten und einen
Menschen, dessen Tod eine Lücke gerissen hat, die nur schwer zu schließen
sein wird.
In den langen Jahren eines mühsamen Aufstieges in
der Universitätshierarchie hat Malter das gesammelt und sich zu
eigen gemacht, was nun zu seinem wissenschaftlichen Erbe gehört –
ein kaum schon ganz überschaubares Material für viele geplante,
für manche begonnene und für einige fast zur Reife gediehene
Veröffentlichungen aus dem ganzen Bereich seiner stetig sich vertiefenden
Interessen, die endlich auf ein abschließendes Kantbuch hinausliefen.
Die von Malter gemachten Funde zu nutzen und als das zu
nehmen, was sie sind, eine Fundgrube des Wissens, dies bleibt die Aufgabe
für eine ihm je länger je mehr ans Herz gewachsene nächste
Generation. Das unabgeschlossene Werk des früh Vollendeten zu bewahren,
bleibt jedoch auch eine allgemeine Aufgabe. Es ehrt sich, wer ihn ehrt.
In diesem Sinne gedachte ein großer Kreis Getreuer seiner am 13.
Dezember 1994 am Grabe. Das philosophische Anliegen Rudolf Malters (Rede Joachim Koppers,
gehalten während der Akademischen Trauerfeier für Rudolf Malter
am 24.6.1995 in Mainz) Rudolf Malter hat seine philosophische Arbeit in besonderem Maße als Verständnis,
Nachvollzug und auch als Fortentwicklung des transzendentalphilosophischen
Denkens Immanuel Kants angesehen. Die Perspektive, unter der er das Werk
Kants betrachtet hat, ist von einer Gegensätzlichkeit bestimmt, die
ihm aus dem Kantischen Werk selbst heraus begegnet ist und die vielleicht
durch die folgenden beiden Kantischen Sätze charakterisiert werden
kann. In einer Anmerkung zum § 88 – Von dem höchsten moralisch-physischen
Gut – seiner Anthropologie sagt Kant: In der Vorrede zu den Prolegomena dagegen – wie auch sonst oft –
wird dem Leser folgendes – in bezug auf
die Kr. d. r. V – mit Deutlichkeit gesagt: So wie Kant selbst
sich in seinem Denken in der Spannung von Weisheitslehre und Wissenschaft
gesehen hat, so ist es auch Rudolf Malter um ein Philosophieren gegangen,
das diese Doppelung von Wissenschaft und Weisheit in sich aushält
und in sich zusammennimmt. Wenn man das Denken, das sich in dieser Dynamik
vollzieht und das diese innere Dynamik selbst ist, mit einem Worte bezeichnen
will, so wird man es das skeptische Denken nennen können1,
und von dem skeptischen Denken hinwiederum kann man sagen, daß es
für sich selbst und als solches als Leiden geschieht. Die Skepsis
ist nicht eine Haltung des Denkens, um die man sich planmäßig
bemühen und die man raisonnierend in Aussagen vorstellig machen könnte,
sie ist vielmehr eine Verfassung, in der das Denken sich als solches und
von Grund auf findet, sobald es überhaupt nur geschieht: eine Verfassung,
von der alles Raisonnieren dann nur ein nachfolgender Ausdruck ist: Dem
Philosophen, der sieh in seinem Denken selbst in dieser Verfassung der
Skepsis erfährt, ist es einsichtig, daß die Skepsis eigentlich
alles menschliche Denken und Bewußtsein charakterisiert und daß
sie nur für die meisten Menschen in der Beschäftigung mit den
Lebenssituationen, die sich mit ihrer eigenständigen Gültigkeit
aufdrängen, untergegangen und unsichtbar geworden ist. Der skeptische
Philosoph aber findet sich ohne sein besonderes Zutun, durch sein bloßes
Leben und Denken selbst, in der Situation, daß er sich in dieser
Skepsis und als diese Skepsis selbst erlebt. Wenn wir auf das Verhältnis
von Weisheit und Wissenschaft zurückkommen, so können wir sagen,
daß der Philosoph, der so in seinem Denken in der Skepsis steht,
der Welt und ihrer Realität nicht einfach mehr nach Art eines Sachverhalts,
der sich in seiner Selbstverständlichkeit angibt, inne ist, sondern
daß die Welt sich für ihn in einer Realität darstellt,
die als solche schon eine durchschaute Realität ist. Dadurch, daß
die Realität der Welt in diesem skeptischen Denken eine als durchschaut
geschehende Realität ist, ändert sich an den Bestimmungen der
Sachverhalte, in denen das Leben geschieht, gar nichts: aber alle diese
Sachverhalte tragen, indem sie wie immer positiv angegeben werden können,
etwas Negatives in sich: daß sie eben nicht als solche gelten können,
sondern nur als durchschaut gelten, an sich selbst nicht den Charakter
des Ansichseins, sondern den bloßen Erscheinens haben. Daß
die Welt und das Dasein des Menschen in ihr diesen Charakter haben, das
bedeutet aber Haltlosigkeit, Illusion. Und das skeptische Denken, das Durchschauen
ist, ist sein Durchschauen nicht etwa auf die Weise der Souveränität
und des Darüberschwebens, sondern es ist sein Sichvollziehen als Durchschauen
so, daß es darin gerade die Illusion und die Haltlosigkeit selbst
ist. Kant hat diesen Zustand in der Antinomik aus dem Raisonnement heraus
vollzogen, durch das er sein Denken zu der Einsicht bringt, daß es
in einer in sich haltlosen Situation in der Welt steht, in der es über
sich selbst und die Welt gar nichts aussagen und meinen kann, sondern sich
in dieser Situation einfach selbst aushalten muß. Rudolf Malter hat
nicht des Raisonnements bedurft, um sich ausdrücklich in diese Skepsis
zu versetzen, für ihn findet das Gegenwärtigsein der Welt und
des Daseins des Menschen in ihr immer schon als dieses Durchschauen statt,
das keine verfügende Erkenntnis, sondern die als solche als Illusion
und Hilflosigkeit geschehende Erkenntnis ist. Man kann sagen, daß
das sich so an sich selbst als Durchschauen vollziehende philosophische
Denken im reinen Sinne das bloße Geschehen von Erfahren ist und daß
dieses bloße Geschehen von Erfahren, das ein Stattfinden ohne alle
für sich geltende Bestimmung ist, als solches, so wie wir es oben
schon angezeigt haben, Leiden ist. Das Durchschauen, das die Skepsis meint,
geschieht als Leiden, das nicht ein Leiden an diesem und jenem ist, sondern
vielmehr das Geschehen der unbedingten Bedeutung selbst ist, die sich als
solche gerade als bloße Illusion und als Hilflosigkeit selbst meinen
muß.
Auf die Weise dieser
Situation, als das Durchschauen, das als solches das reine und bloße
Geschehen von Leiden ist, ist das skeptische Denken Weisheit. Die Weisheit
ist das Denken und Erkennen, das als Leiden sein Geschehen als Innesein
ist. So ist für Rudolf Malter die Weisheit das Medium, in dem und
als dessen Vollzug das philosophische Denken ursprünglich geschieht.
Die Weisheit wird nicht aus dem Raisonnieren heraus und durch den vermeinten
Vollzug dieses Raisonierens als Wissenschaft erreicht, sondern sie ist
anfänglich schon das Leben des philosophischen Gedankens selbst, dem
sein Philosophieren nicht Konstruieren, Urteilen und Schließen ist,
sondern das Geschehen seiner selbst als das bloße und reine Erfahren,
das an ihm selbst Leiden ist, das nicht ein Leiden an etwas ist, sondern
das leidend geschehende Fürsichselbstsein des Leidens als Leiden.
In diesem Leiden drängt sich alles zusammen, was ein affirmierendes
Denken von Endlichkeit und Tod, aber auch von Unendlichkeit und Ewigkeit
zu sagen weiß, und als diese in sich beschlossene Totalität,
die dieses Denken, das Leiden ist, ist, ist es die Weisheit.
Diese Weisheit, die
sie selbst als bloßes Erfahren, als bloßes Innesein ist, verlangt
danach, für sich selbst als Sichausweisen zu sein. Das skeptische
Denken, das als Erfahren reines Durchschauen ist, ist Weisheit: daß
das Durchschauen sichb im Erfahren als Durchschauen bezeuge, daß
das Leiden, wie es es selbst als bloßes Erfahren ist, doch auch als
Begriff geschehe, gehört zur Weisheit dazu und besagt, daß sie
auf die Weise eines ihr wesentlichen Anliegens auch Wissenschaft meint.
Dieses Begreifen aber kann nicht aus der Welt gewonnen werden, – wie Kant
dies in seiner transzendentalen Analytik leisten zu können gemeint
hat –, die Weisheit, das durchschauende Denken oder das Leiden, muß
sich durch sich und als solche in den Begriff stellen; nicht eine vorgefundene
Welt, mit dem Menschen in ihr, wird begriffen, sondern die Weisheit gibt
sich sich selbst auch als Begreifen an. Die Weisheit, die Leiden ist, muß
sich, wenn wir so sagen wollen, selbst begegnen und so für sich selbst
und als solche auch als Sichausweisen geschehen. Diese Begegnung aber findet
statt, indem das Denken des Einzelnen sich in seiner Einzelnheit selbst
aus der Gemeinsamkeit des Denkens vernimmt, sich auf die Weise seiner Einzelnheit
selbst als den Vollzug des in sich gemeinsamen Denkens faßt. So kann
die Weisheit, die Leiden ist, sich auf die Weise ihrer selbst so vollziehen,
daß sie für sich ihr Geschehen als Sichausweisen als solche
ist.
Daß das philosophische
Denken, das Weisheit ist, die als Leiden geschieht, für sich selbst
als Sichausweisen statthaben könne, das geschieht dadurch, daß
dieses Denken sich selbst als Hören und Lesen vollzieht und versteht.
Nicht durch die Auseinandersetzung mit den Sachverhalten der Welt, sondern
aus der durch Hören und Lesen vollzogenen Gemeinsamkeit des Denkens,
die sich im Begreifen als das Vorgängige gestaltet, das sich auf die
Weise des Begreifens so bestimmt und angibt, daß dieses Bestimmen
eben das Sichdurchführen seines Vorgängigseins selbst ist, gelangt
die Weisheit dazu, für sich selbst auch als Sichausweisen zu geschehen,
für sich selbst, wenn wir es so sagen wollen, auch Wissenschaft zu
werden. In diesem Sinne hat Malter das Wort ,Wissenschaft' so genommen,
wie es auch Fichte schon getan hat: die Weisheit ist Weisheit so, daß
sie darin auch ihr Fürsichselbstsein, daß sie darin auch ,Wissenschaft'
ist. Durch Lesen, durch das Lesen vor allem der Denker, deren Denken auch
Leiden gewesen ist und sich als Leiden selbst verstanden hat, gelangt die
Weisheit zur Wissenschaft, und das Leiden wandelt sich in den Zustand,
den Kant die Selbstzufriedenheit genannt hat: ein Zustaiud, der kein Glück
ist, der aber – woran sich gerade Schopenhauer, der für Rudolf Malter
so viel zur Belehrung der Weisheit über sich selbst beigetragen hat,
gehalten hat –, Trost ist: es ist der in sich selbst ruhende Trost, den
das Denken in jeneoh Stillestehen der Vernunft im Skeptizismus, von dem
Kant gesprochen hat, in sich selbst erlangt.
Dieses Sichverstehen
der Weisheit vollendet sich aus dem Sichhineingeben in das Denken Luthers,
Kants, Schopenhauers heraus für Rudolf Malter als ein Erfahren, in
dem die Weisheit sich selbst ihren eigenen Ort nicht mehr nur in dem denkenden
und leidenden Individuum gibt, sondern das Geschehen der Menschheit selber
ist, wie es als solches in Leiden und Trost auf die Weise der sichtbaren
Kirche stattfindet, deren die ganze Menschheit umfassendes Wesen auf die
Weise des leidenden und getrösteten Lebens der Einzelnen lebendiges
Leben ist.
Im Jahre 1993 fand
in Dijon eine Tagung statt, die sich vor allem mit Kants Religion innerhalb
der Grenzen der blossen Vernunft befaßt hat. Dort hat Rudolf
Malter zur Frage der Bedeutung der Kirche für Kant gesprochen. Aus
diesem Vortrag, so wie er ihn, aus seinem Manuskript für ihn selbst
übersetzt, in französischer Sprache gehalten hat, setze ich die
folgenden abschließenden Worte hierher: La tradition chrétienne
nommait l'Eglise corpus mysticum. L'Eglise est chez Kant également
un corp mystique: nous ne savons pas pourquoi nous péchons, nous
ne savons pas pour quelles raisons nous sommes délivrés.
Mais nous savons que nons serons sauvés moralement dans l'Eglise
visible idéale, et c'est là tour ce qui compte. |